Es war ein heißer Tag und Jenny wollte
viel lieber weiter mit ihrem Freund Niklas spielen. Trotzdem fuhren wir
los zu ihrer ersten Unterrichtsstunde am Keyboard. Zunächst war Jenny
ganz schüchtern. Aber der Lehrer war toll und hat sie ganz spielerisch
an das Instrument herangeführt. Für die richtige Fingerhaltung
machte er eine Faust - die Erdkugel - und legte die andere Hand darüber.
Jenny sollte es nachmachen. Nun hatte sie die ganze Welt umfasst! Dann
waren ihre Finger 2 Mäuse, die die Tonleiter herauf und herunter liefen.
Zuerst waren ihre Finger ganz zaghaft, aber dann taute Jenny auf und wollte
vor lauter Begeisterung gar nicht wieder aufhören. Sie überhörte
einfach die weiteren Anweisungen des Lehrers und grinste ihn charmant an.
Typisch Jenny! Wieder zu Hause, spielte Jenny weiter mit Niklas. Nach einer
Weile fragten sie: "Dürfen wir zu Spar, uns ein Eis kaufen?" Es war
nicht das erste Mal, trotzdem fühlte ich mich diesmal seltsam unwohl.
(Warum bloß habe ich nicht auf meine Intuition gehört?!!!) Ich
rief den Kindern deshalb hinterher, auch wirklich den Ampelüberweg
zu benutzen - ein Umweg. Ich sah ihnen hinterher und versuchte mich zu
beruhigen. Jenny kaufte sich statt Eis eine Wuntertüte. Für Jungen
- sie konnte ja noch nicht lesen. Jenny-Maus, der Inhalt hätte dir
nicht mal gefallen! Sie wollte schnell nach Hause und ihre Wundertüte
auspacken und uns zeigen. Sie schaute links und rechts, dann ganz schnell
über die Straße. So wie es ihr beigebracht wurde. Mein großes
Mädchen, DU hast alles richtig gemacht! Doch wieviel anders wäre
es verlaufen, wenn du auch auf dem Rückweg über die Ampel gegangen
wärst. ICH hätte dich noch viel mehr vor den Gefahren warnen
müssen. Zu Hause kamst du nie an.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite
erfasste dich ein Auto voll und schleuderte dich auf den Asphalt. Als wir
ankamen, lagst du bewusstlos am Straßenrand. ...Ein Glück, Puls
und Atmung fühlbar. Alles wird wieder gut. MUSS gut gehen. Wo bleibt
bloß der Krankenwagen? Es dauerte - nach unserem Zeitempfinden -
eine halbe Ewigkeit. Wir durften nicht mit in den Krankenwagen. Mein Mann
hyperventilierte, ich war nur noch eine willenlose Marionette. Endlich,
endlich durfte ich zu ihr. Dass der Sanitäter nur sagte, dass sie
jetzt keine Schmerzen mehr hat, registrierte ich nur am Rande. "Jenny,
ich liebe dich. Halte durch! Wir kommen sofort nach! Du schaffst es! Halte
durch, ich liebe dich so sehr!" Ich küsste Jenny noch einmal
und sie reagierte mit Augenflackern - ihre letzte Reaktion, aber das wusste
ich ja nicht. Dann kam der Rettungshubschrauber. Ich wusste nicht, dass
ich hätte darauf bestehen können mitzufliegen. Wann starb sie?
Wann war ihr letzter Augenblick? Ganz allein im Hubschrauber, später
im Krankenhaus oder schon in dem Augen-Blick im Krankenwagen? War sie allein,
keiner von uns dabei? Wir wussten nicht mal, wohin sie geflogen wird und
mussten erstmal die Krankenhäuser anrufen. Jenny kam ins Klinikum
Nord nach Hamburg. Eine lange Autofahrt für uns und trotzdem mussten
wir im Krankenhaus selbst noch unerträglich lange warten. Ein Arzt
kam und teilte uns mit, dass sie es wahrscheinlich nicht überleben
wird. Ihr Gehirn schwillt immer weiter an und deshalb können sie nicht
operieren. Ich fing an um die Prozente für ihre Überlebenschance
zu feilschen. 1%, 2% oder sogar 5%? Und klammerte mich an dieses Fünkchen
Hoffnung, als wenn wir damit etwas ändern könnten! Wir durften
jetzt zu ihr. Ich konnte nur denken: du musst für sie da sein, für
sie stark sein. Sie braucht deine Begleitung - was diese Begleitung bedeutete,
klammerte ich aus. Sie war angeschlossen an so viele Schläuche, sah
aber so aus, als wenn sie nur friedlich schlief. Bis zum Abschalten der
Maschinen und auch noch danach schliefen und aßen wir nichts mehr.
Unser Kind hirntot! Wir warteten auf eine Reaktion von ihr, ein Zucken
eines Fingers, ein Flackern der Augen,... Der Arzt m u s s
sich irren. Jedesmal wenn die Überwachungsanlage kurz ausfiel und
dann piepte verfielen wir in Panik. Jetzt stirbt sie, jetzt stirbt sie.
Wir redeten und redeten mit ihr, streichelten und schmusten mit ihr, klammerten
die Realität aus und sogen doch alle Einzelheiten in uns auf:
ihren Geruch, ihr Aussehen, ihre warme, weiche Haut - unser Kind. Ich bin
überzeugt, dass auch sie unsere Nähe, unsere Liebe noch spüren
konnte - irgendwie.
Am nächsten Tag sind alle gekommen: Verwandte,
Freunde, Nadine. Alle durften sich verabschieden - auf der Intensivstation:
Noch heute sind wir dem Personal dankbar für ihr Entgegenkommen und
ihr Einfühlungsvermögen. Diese Zeit mit Jenny war so wichtig.
Auch Nadine konnte für eine Weile allein bei ihr bleiben. Sie hatte
ein schlechtes Gewissen, weil sie sich kurz davor gestritten hatten. Nun
konnte sie sich entschuldigen. Noch heute höre ich Nadines Schmerzensschrei:
"Jenny, wach auf, wach doch auf!!!" Und mir bedeutete es sehr viel, ihr
zu versprechen, dass wir noch mal in die Türkei fliegen werden - mit
ihr in uns. Jenny blieb jetzt nur noch an den Maschinen, weil zwischen
den beiden EEGs mindestens 14 Stunden liegen müssen. Es wurden auch
noch mal Reaktionstests gemacht, aber wir wussten schon vorher, dass sie
tot ist - soweit man das überhaupt begreifen kann, so plötzlich
und unerwartet. Wir drängten darauf, dass dann die Maschinen
auch sofort abgeschaltet wurden. Sie sollte nicht weiter in einem Körper
gefangen sein, der nicht mehr funktioniert, sie sollte frei sein und in
Frieden gehen können . (Erst später fing ich an die ganze Tragweite
Stück für Stück zu erfassen und hatte mir gewünscht,
dass ich vielleicht mehr hätte versuchen sollen, sie festzuhalten).
Ich hielt sie im Arm, sie war sooo schwer! Ich konnte ihren Kopf kaum halten.
Ihr Körper veränderte sich jetzt sehr schnell. Auch Klaus und
Nadine nahmen sie nochmal in den Arm. Alle verabschiedeten sie sich. Leider
verließ mich dann der Mut, sie so tot aussehend noch mal anzusehen.
Im Nachhinein war der Abschied zu kurz! Aber vielleicht kann so ein Abschied
nie lang genug sein. Warum ausgerechnet du, mein geliebtes Kind? Wir verließen
das Krankenhaus. Unser Kind ist gestorben.
Und der Rasenmähermann mähte weiter
den Rasen vor dem Krankenhaus - als wäre nichts geschehen.
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