13. Mai ´02

Es war ein heißer Tag und Jenny wollte viel lieber weiter mit ihrem Freund Niklas spielen. Trotzdem fuhren wir los zu ihrer ersten Unterrichtsstunde am Keyboard. Zunächst war Jenny ganz schüchtern. Aber der Lehrer war toll und hat sie ganz spielerisch an das Instrument herangeführt. Für die richtige Fingerhaltung machte er eine Faust - die Erdkugel - und legte die andere Hand darüber. Jenny sollte es nachmachen. Nun hatte sie die ganze Welt umfasst! Dann waren ihre Finger 2 Mäuse, die die Tonleiter herauf und herunter liefen. Zuerst waren ihre Finger ganz zaghaft, aber dann taute Jenny auf und wollte vor lauter Begeisterung gar nicht wieder aufhören. Sie überhörte einfach die weiteren Anweisungen des Lehrers und grinste ihn charmant an. Typisch Jenny! Wieder zu Hause, spielte Jenny weiter mit Niklas. Nach einer Weile fragten sie: "Dürfen wir zu Spar, uns ein Eis kaufen?" Es war nicht das erste Mal, trotzdem fühlte ich mich diesmal seltsam unwohl. (Warum bloß habe ich nicht auf meine Intuition gehört?!!!) Ich rief den Kindern deshalb hinterher, auch wirklich den Ampelüberweg zu benutzen - ein Umweg. Ich sah ihnen hinterher und versuchte mich zu beruhigen. Jenny kaufte sich statt Eis eine Wuntertüte. Für Jungen - sie konnte ja noch nicht lesen. Jenny-Maus, der Inhalt hätte dir nicht mal gefallen! Sie wollte schnell nach Hause und ihre Wundertüte auspacken und uns zeigen. Sie schaute links und rechts, dann ganz schnell über die Straße. So wie es ihr beigebracht wurde. Mein großes Mädchen, DU hast alles richtig gemacht! Doch wieviel anders wäre es verlaufen, wenn du auch auf dem Rückweg über die Ampel gegangen wärst. ICH hätte dich noch viel mehr vor den Gefahren warnen müssen. Zu Hause kamst du nie an.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erfasste dich ein Auto voll und schleuderte dich auf den Asphalt. Als wir ankamen, lagst du bewusstlos am Straßenrand. ...Ein Glück, Puls und Atmung fühlbar. Alles wird wieder gut. MUSS gut gehen. Wo bleibt bloß der Krankenwagen? Es dauerte - nach unserem Zeitempfinden - eine halbe Ewigkeit. Wir durften nicht mit in den Krankenwagen. Mein Mann hyperventilierte, ich war nur noch eine willenlose Marionette. Endlich, endlich durfte ich zu ihr. Dass der Sanitäter nur sagte, dass sie jetzt keine Schmerzen mehr hat, registrierte ich nur am Rande. "Jenny, ich liebe dich. Halte durch! Wir kommen sofort nach! Du schaffst es! Halte durch, ich liebe dich so sehr!" Ich küsste Jenny  noch einmal und sie reagierte mit Augenflackern - ihre letzte Reaktion, aber das wusste ich ja nicht. Dann kam der Rettungshubschrauber. Ich wusste nicht, dass  ich hätte darauf bestehen können mitzufliegen. Wann starb sie? Wann war ihr letzter Augenblick? Ganz allein im Hubschrauber, später im Krankenhaus oder schon in dem Augen-Blick im Krankenwagen? War sie allein, keiner von uns dabei? Wir wussten nicht mal, wohin sie geflogen wird und mussten erstmal die Krankenhäuser anrufen. Jenny kam ins Klinikum Nord nach Hamburg. Eine lange Autofahrt für uns und trotzdem mussten wir im Krankenhaus selbst noch unerträglich lange warten. Ein Arzt kam und teilte uns mit, dass sie es wahrscheinlich nicht überleben wird. Ihr Gehirn schwillt immer weiter an und deshalb können sie nicht operieren. Ich fing an um die Prozente für ihre Überlebenschance zu feilschen. 1%, 2% oder sogar 5%? Und klammerte mich an dieses Fünkchen Hoffnung, als wenn wir damit etwas ändern könnten! Wir durften jetzt zu ihr. Ich konnte nur denken: du musst für sie da sein, für sie stark sein. Sie braucht deine Begleitung - was diese Begleitung bedeutete, klammerte ich aus. Sie war angeschlossen an so viele Schläuche, sah aber so aus, als wenn sie nur friedlich schlief. Bis zum Abschalten der Maschinen und auch noch danach schliefen und aßen wir nichts mehr. Unser Kind hirntot! Wir warteten auf eine Reaktion von ihr, ein Zucken eines Fingers, ein Flackern der Augen,... Der Arzt  m u s s  sich irren. Jedesmal wenn die Überwachungsanlage kurz ausfiel und dann piepte verfielen wir in Panik. Jetzt stirbt sie, jetzt stirbt sie. Wir redeten und redeten mit ihr, streichelten und schmusten mit ihr, klammerten die Realität aus und  sogen doch alle Einzelheiten in uns auf:  ihren Geruch, ihr Aussehen, ihre warme, weiche Haut - unser Kind. Ich bin überzeugt, dass auch sie unsere Nähe, unsere Liebe noch spüren konnte - irgendwie.

Am nächsten Tag sind alle gekommen: Verwandte, Freunde, Nadine. Alle durften sich verabschieden - auf der Intensivstation: Noch heute sind wir dem Personal dankbar für ihr Entgegenkommen und ihr Einfühlungsvermögen. Diese Zeit mit Jenny war so wichtig. Auch Nadine konnte für eine Weile allein bei ihr bleiben. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich kurz davor gestritten hatten. Nun konnte sie sich entschuldigen. Noch heute höre ich Nadines Schmerzensschrei: "Jenny, wach auf, wach doch auf!!!" Und mir bedeutete es sehr viel, ihr zu versprechen, dass wir noch mal in die Türkei fliegen werden - mit ihr in uns. Jenny blieb jetzt nur noch an den Maschinen, weil zwischen den beiden EEGs mindestens 14 Stunden liegen müssen. Es wurden auch noch mal Reaktionstests gemacht, aber wir wussten schon vorher, dass sie tot ist - soweit man das überhaupt begreifen kann, so plötzlich und unerwartet.  Wir drängten darauf, dass dann die Maschinen auch sofort abgeschaltet wurden. Sie sollte nicht weiter in einem Körper gefangen sein, der nicht mehr funktioniert, sie sollte frei sein und in Frieden gehen können . (Erst später fing ich an die ganze Tragweite Stück für Stück zu erfassen und hatte mir gewünscht, dass ich vielleicht mehr hätte versuchen sollen, sie festzuhalten). Ich hielt sie im Arm, sie war sooo schwer! Ich konnte ihren Kopf kaum halten. Ihr Körper veränderte sich jetzt sehr schnell. Auch Klaus und Nadine nahmen sie nochmal in den Arm. Alle verabschiedeten sie sich. Leider verließ mich dann der Mut, sie so tot aussehend noch mal anzusehen. Im Nachhinein war der Abschied zu kurz! Aber vielleicht kann so ein Abschied nie lang genug sein. Warum ausgerechnet du, mein geliebtes Kind? Wir verließen das Krankenhaus. Unser Kind ist gestorben. 

Und der Rasenmähermann mähte weiter den Rasen vor dem Krankenhaus - als wäre nichts geschehen.
 


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